
LindenLAB
Partizipation, Provenienz, Präsentation
Das Linden-Museum Stuttgart erprobt und entwickelt seit Herbst 2019 im Experimentierraum LindenLAB neue Formen musealer Wissensproduktion, Partizipation und Präsentation. Gefördert wird das Projekt im Rahmen der Initiative für Ethnologische Sammlungen der Kulturstiftung des Bundes. Das Projekt wurde im Dezember 2022 abgeschlossen, fünf der Präsentationen sind noch bis Juni 2023 zu sehen.
Das Linden-Museum befindet sich, wie viele ethnologische Museen, im Wandel. In einer zunehmend diversen Gesellschaft wird die gesellschaftliche Rolle und Relevanz ethnologischer Museen neu verhandelt. Ausgehend von der Idee des Labors, eröffnet das LindenLAB die Möglichkeit, die Grundlage für eine Neuausrichtung experimentell zu erarbeiten.
Ausgewählte Sammlungen und Objekte helfen dabei, Aspekte gesellschaftlicher Ungleichheit und das Wirken (post-)kolonialer Strukturen im Museum zu thematisieren. Insgesamt sind acht LABs geplant. Einige der LABs bearbeiten Fragestellungen mithilfe eines regionalen Beispiels, andere legen den Fokus auf die Arbeit hinter den Kulissen. Alle LABs setzen sich mit übergreifenden Themen auseinander: Praktiken ethnografischen Sammelns, kolonialzeitliche Strukturen und ihre Nachwirkungen in der Gegenwart, die Verteilung von Deutungshoheit im musealen Betrieb, die Rolle ethnologischer Museen heute. Hierzu werden partizipative Formate mit Forschung zur Herkunft der Sammlungen verbunden, um Verflechtungen offenzulegen, zu thematisieren und zu reflektieren. Im Museum entsteht so ein innovativer und experimenteller Raum, der einen intensiven Austausch mit Vertreter*innen der Herkunftsgesellschaften, Angehörigen der diversen Stuttgarter Stadtgesellschaft, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Gestalter*innen ermöglicht.
Gemeinsam werden bestehende Strukturen von innen heraus befragt und vielstimmige Präsentationen erschaffen. Der Experiment- und Prozesscharakter bedeutet auch, dass sich die gezeigten Maßnahmen im Lauf des Projekts verändern können, da das Gelernte und Erlebte immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Prozess und Ergebnisse werden im LAB präsentiert. Darüber hinaus werden die Ergebnisse schließlich in neue Dauerausstellungen einfließen. Sie bilden die Grundlage für die Neukonzeption des Museums in einem zukünftigen Neubau.
Derzeitige Ausstellungen im Rahmen des Projekts:
LindenLAB 1: Museen und indigene Gesellschaften
Neue Formen der Kooperation
27. Februar 2020 bis Juni 2023
Indigene Gruppen wurden oftmals wiederholt von präkolonialen Reichen, von Kolonialmächten und von postkolonialen Nationalstaaten marginalisiert. Bedroht von Armut und Kriegen verkauften sie oft ihre Kulturgüter. Wie können Museen als Bewahrer dieser Sammlungen heute zur Stärkung solcher Gesellschaften beitragen? Gemeinsam mit Vertreter*innen indigener Kulturinitiativen aus der Karenni-Region im Osten Myanmars wurde im LindenLAB 1 mit neuen Formen der Kooperation und des Teilens von Know-How und Ressourcen experimentiert.
Ein erster Teil des LABs fand vor Ort in der Karenni-Region in Myanmar statt: Hier wurde das Projekt von Dr. Georg Noack, Referent für Süd- und Südostasien, gemeinsam mit Vertreter*innen indigener Kulturinitiativen entwickelt. Erste Workshops wurden durchgeführt. Im zweiten Teil waren die indigenen Partner*innen im November 2019 vier Wochen im Linden-Museum zu Gast. Hier hatten sie die Gelegenheit, die Sammlungen kennenzulernen und sich mit den Herangehensweisen an Ausstellungsgestaltung, Konservierung wertvoller Objekte und Kulturvermittlung vertraut zu machen. Sie nahmen viele Anregungen für ihre eigene Kulturarbeit mit, die das Linden-Museum weiter beratend unterstützen möchte.
Eine im Rahmen des LABs entstandene Ausstellung, kuratiert von Olivia Musu und Patricio Doei vom Kayaw Literatur und Kultur Zentralkomitee sowie Khun Vincentio Besign und Khun Myo Aung vom Kayan Literatur und Kultur Zentralkomitee, ist im 2. Obergeschoss zu sehen.
LindenLAB 3: Across Time, Place and People
Whakawhānaungatanga – Connecting taonga Māori
11. Dezember 2022bis Juni 2023
Etwa 150 Taonga Māori (Māori-Schätze) aus Aotearoa Neuseeland gelangten ab 1899 in die Sammlung des Linden-Museums. Über ihre vorherige Geschichte, Whakapapa, ist wenig bekannt. Angeleitet von Māori-Forscher*innen geht LindenLAB 3 dieser nach und erörtert, wie sie eine Bedeutung, Mana und Kōrero zwischen Māori und Museumsmitarbeiter*innen schafft. Es werden Verbindungen aufgezeigt, die die Sammlung mit Individuen und lokalen Gemeinschaften, mit der Geschichte von Institutionen und Nationen verknüpft – ohne dabei die kulturellen und künstlerischen Bedeutungen und Lebendigkeit zu vernachlässigen.
LindenLAB 6: Spuren aus dem Depot
Eine Suche nach Zukunft von Geschichte
1. Juli 2022 bis Juni 2023
Das LindenLAB 6 zeigt – erstmals in der „neueren“ Geschichte des Linden-Museums – eine Auswahl aus den 238 Objekten, die 1908 von Hermann Karl Bertram an Karl Graf von Linden gesandt wurden. Bertram war Oberleutnant einer so genannten „Schutztruppe“ in Kamerun und nahm zwischen 1905 und 1907 an der „Südexpedition“ teil. Diese militärische Aktion zielte darauf ab, die politischen Institutionen im Südosten Kameruns zu unterwerfen, die Kontrolle über die Region zu erlangen und die Interessen der damals in der Region tätigen europäischen Handelsgesellschaften zu unterstützen.Die drei Projektpartner des LindenLAB 6 - Prof. Germain Loumpet, Tah Kennette Konsum und Stone Karim Mohamad - beschäftigen sich seit langem auf unterschiedliche Weise mit der Verbreitung von Wissen über die im kamerunischen Kulturerbe verankerten Geschichten. Auf ihrem gemeinsamen Weg vom Museumsdepot zurück in den Südosten Kameruns traten sie in Kontakt mit einer lange verschollenen historischen Sammlung wie auch miteinander. In der Präsentation geben sie Einblicke in eine lebhafte Diskussion über Politiken des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland und Kamerun.
LindenLAB 7: El "buen vivir" mapuche
Was ist ein "gutes Leben"?
9. Dezember 2022 bis Juni 2023
Das LindenLAB 7 erschließt und erklärt das philosophische und kosmologische Konzept des „buen vivir“, „guten Lebens“, der Mapuche anhand einer von Mapuche hergestellten neuen, zeitgenössischen Sammlung von Silberschmuck und zwei Trachten von Schamanenhelfern. Was bedeutet den Mapuche ihr Land, die Territorien ihrer Ahn*innen? Wie treten sie in Kontakt mit diesen Wissensträger*innen ihrer Kultur?
Die Mapuche in Südchile waren bis 1883 autonom und wohlhabend. Die Eroberung durch das chilenische Militär kostete die Hälfte der Mapuche-Bevölkerung ihr Leben, sie verloren über 90 % ihrer Territorien und stürzten in absolute Armut. Danach wurden bewusst europäische, vor allem deutsche, Siedler*innen angeworben um das Land zu kolonisieren. Holzkonzerne bewirtschaften außerdem einen großen Teil des Mapuche-Gebietes durch das Anlegen von Eukalyptus- und Pinienplantagen zur Herstellung von Zellstoff.
Das LindenLAB 7 möchte neue Möglichkeiten des Sammelns eines ethnologischen Museums aufzeigen und Weltbilder kontrastieren, die Menschenverachtung des Kolonialismus beleuchten. Es entsteht in partizipativer Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der Mapuche aus Contulmo, Wallmapu, heute Teil von Chile.
LindenLAB 8: Was bleibt?
Erkenntnisse für die Zukunft des Linden-Museums
11. Dezember 2022 bis Juni 2023
Labore sind Experimentierfelder utopischen Denkens. In sieben LindenLABs zu den Themen Provenienz, Partizipation und Präsentation hat das Linden-Museum Stuttgart in den letzten vier Jahren viel ausprobiert. Erkenntnisse daraus fließen in die Weiterentwicklung des Museums ein. An fünf Orten im Museum gibt das Museumsteam gemeinsam mit den Projektpartner*innen Einblicke in die entstandenen LABs und die dazugehörigen internen Prozesse. Hier stellt sich das Museum die für sich wichtigsten Fragen: Wie vermitteln wir Inhalte für die Besucher*innen? Wie gehen wir zukünftig mit unserer Sammlung um? Wie arbeiten wir mit anderen Menschen zusammen? Was zeigen wir in unseren Ausstellungen und wie? Welche Rolle spielen wir für die Menschen in Stuttgart?
Vergangene LABs:
LindenLAB 2: Objekte und Sammler
Neue Wege, Provenienzforschung zu vermitteln
26. Juni 2020 bis 30. Januar 2022
Wie kommt man der Herkunft von Objekten auf die Spur? Wie kamen sie ins Museum? Wer hat sie dem Museum übergeben? In welchem Kontext wurden sie gesammelt? Wurden sie gekauft, geschenkt, getauscht oder möglicherweise geraubt? Welche Folgen ergeben sich daraus für Museen und Wissenschaftler*innen, die heute mit den Objekten arbeiten?
Die Installation im LindenLAB 2 lädt dazu ein, anhand eines realen Forschungsauftrages die Arbeitsweise von Provenienzforscher*innen spielerisch nachzuvollziehen. Für das LindenLAB 2 wurde die Sammlung von Karl Holz (1857 – 1934) intensiv betrachtet. Holz war ein Kaufmann, der vermutlich in den frühen 1880er Jahren nach Chile auswanderte, sich fortan Carlos Holz nannte und Graf von Linden mit vielen Objekten, vor allem von den Mapuche, belieferte. Welche Geschichte verbirgt sich hinter seiner Sammlung? Welche Hindernisse, Wendungen und historische Begebenheiten sind damit verbunden? Auf diese Fragen versucht das LAB 2 Antworten zu finden.
Zusätzlich zur Präsentation im Museum gibt es eine virtuelle Ausstellungsergänzung.
Virtuelle Ausstellungsergänzung:
https://lab02-online-besuchen.lindenlab.de/
LindenLAB 4: Entangled: Stuttgart – Afghanistan
Verflechtungen von Geschichte, Sammlung, Menschen
30. März 2021 bis 16. Oktober 2022
Im Linden-Museum befinden sich Tausende Gegenstände, Fotos und Dokumente aus Afghanistan. Ihre spannende(n), teils problematische(n) Geschichte(n) erzählen uns viel über persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, aber auch über politische und wirtschaftliche Hintergründe und Verflechtungen. Sie stehen für höchst ambivalente Facetten der deutsch-afghanischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart.
Eine Arbeitsgruppe von Interessierten aus Stuttgart und Umgebung mit und ohne Afghanistan-Bezug hat sich vor allem mit den Fotografien der Stuttgarter Badakhshan-Expedition (1962/63) auseinandergesetzt.
LindenLAB 5: (in) Beziehungen
sein / hinterfragen / lernen / aufbrechen
30. März 2021 bis 16. Oktober 2022
LAB 5 stellt die Beziehungen zwischen Menschen, Objekten und der Institution Museum in den Mittelpunkt. Der Fokus des LABs liegt auf den Themen Sprache und Bilder. Das Museum reflektiert seine Position in Bezug auf diskriminierungsfreie, gendergerechte und barrierefreie Sprache und stellt sich der Frage nach Veränderung: Wie können wir unsere alltäglich gesprochene Sprache ändern? Welche Strukturen müssen dazu aufgebrochen werden? Welche Bilder verwenden wir und welche nicht?
Begleitend zum LAB 5 greift der LindenLAB Podcast in vier Folgen Themen des LABs auf und bringt sie „ins Gespräch“. Themen hierbei sind „Rassismus raus. Wie räumen wir unsere Sprache auf?“, „Authentisch – for real?!“ und „Museums(t)räume – Welche Räume braucht ein Museum in Zukunft?“. Der Podcast ist auf allen gängigen Podcast-Plattformen verfügbar.
Weitere Aktivitäten des LindenLABs:
Das neue Museum
Konferenz, 28./29. Februar 2020
„Was bedeutet das Linden-Museum für Dich?“
Besucher*innenbefragung, März bis Juli 2021
Nähere Informationen zum LindenLAB:
www.lindenlab.de
Pressemitteilung LindenLAB (pdf)
Pressefotos
LindenLAB 3: Halsschmuck hei tiki, Neuseeland, Maori
Copyright: Linden-Museum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer | Download
LindenLAB 6: Trommel, Südkamerun, Njem, vor 1908, Slg. Bertram, Materialien: Holz, Tierhaut, Inv. Nr. 055784
Am letzten Tag ihrer gemeinsamen Reise in den Südosten besuchten die kamerunischen Projektpartner des LindenLAB 6 das Dorf Mejoh in Südkamerun, wo noch immer ähnliche Trommeln hergestellt werden. Diese Trommel erzählt nicht vom Einfluss des europäischen Kolonialismus auf die lokalen Bräuche, sondern vom interafrikanischen Kulturaustausch und insbesondere vom Einfluss der Fang-Beti-Kultur in dieser Region. Wie alle Objekte dieser Sammlung bezeugen, gab es keine vollkommen isolierte „ethnische Gruppe“, zumindest nicht in der Vorstellung der kolonialen Sammler, die von statischen Klassifizierungen überzeugt waren.
Copyright: Linden-Museum Stuttgart, Foto: Dominik Drasdow | Download
LindenLAB 7: Brustschmuck, doppelreihige Kette für Frauen killkay domo
Künstler*innen: Millaray Garrido und Mario Cayupi, Contulmo, Chile 2021, Material: Silber, Ankauf aus dem Eigenetat des Linden-Museums 2022
Killkay bezeichnet hängenden Schmuck. Der Entwurf wurde exklusiv für das Linden-Museum angefertigt. Solche Doppelketten tragen hochrangige Frauen wie die Töchter oder Ehefrauen der ülmen, bedeutender und reicher Autoritäten, aber auch Schamaninnen (machi). Der Lärm, den der Schmuck beim Tanzen macht, gilt als Bezahlung für die Götter. Text: Millaray Garrido
Copyright: Linden-Museum Stuttgart, Foto: Dominik Drasdow | Download